In die Liebe gehen

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Vergangenes Wochenende hatte ich das bisher wohl schönste und intensivste Gespräch mit meinem Sohn, das es bisher gab. Wenn ich dir jetzt erzähle, dass wir über einen Friedhof spaziert sind und uns dabei über das Leben und das Sterben unterhalten haben, schüttelst du vielleicht den Kopf und denkst: „Das ist doch kein Ort und kein Thema für Kinder!“ Doch für mich bot dieser ungeplante Umweg über den Friedhof einen absoluten und befreienden Perspektivwechsel, der meine Sichtweise und meine eigene Einstellung zum Tod verändert hat.

Während ich seine Fragen beantwortete, fühlte ich mich so tief verbunden mit dem Leben und spürte eine Klarheit in mir, die mir Gänsehaut auf Unterarme und Nacken zauberte. Die Antworten für diese Situation hatte ich nicht vorbereitet. Ich hatte das ganze Gespräch nicht vorbereitet. Die Erklärungen zu seinen Fragen flossen förmlich durch mich hindurch und aus mir heraus und erfüllten mich mit Einsicht, Vertrauen und Freude.

Ich beginne mal von vorne und erkläre, wie wir überhaupt auf dem Friedhof gelandet sind. Unser Spaziergang an einem herbstlich sonnigen Sonntag führte uns zu einer Drehtür, die mein Sohn auf einem unserer Nachmittags-Ausflüge gesehen hatte und durch die er unbedingt durchgehen wollte. Mit dem Kinderwagen haben wir bisher nie durch diese kleine Tür gepasst. Am besagten Tag waren wir ohne Kinderwagen, dafür mit dem kleinen Roller meines Jungen unterwegs. Eine gute Gelegenheit, die spannende Drehtür zu passieren. Das hatte sich mein Sohn gewünscht. Eben jene Tür bildet – je nachdem von welcher Richtung man kommt – den Ein- oder Ausgang des Friedhofsgeländes.

Mit seinen drei Jahren, ist mein Junge voller Fragen und möchte die Welt verstehen. Nicht mehr und nicht weniger ist gerade seine Aufgabe: Zu verstehen, wie Leben eigentlich funktioniert. Also kamen die Fragen, als wir auf dem Friedhof standen:

„Mama, was sind das für Steine und was steht da drauf?“

„Wir sind auf einem Friedhof, hier können wir die Menschen besuchen, die gestorben sind. Die Namen von den Menschen, die gestorben sind, stehen auf den Steinen drauf. So wissen die Familien und Freunde, wo sie ihre Liebsten besuchen können.“

„Und wohin gehen die Menschen, die sterben?“

„Sie gehen in die Liebe. Dorthin, wo es ihnen immer gut geht.
 Fühlst du dich geliebt und weißt, dass es dir gut geht, wenn du dich geliebt fühlst?“

„Ja.“ Mein Junge schaut nach oben zu den Wolken, die über unsere Köpfe hinweg ziehen und fragt dann: „Und wann gehen wir in die Liebe?“

Genau diese Frage war es, die mich so klar erkennen ließ, dass die Angst vor dem Tod völlig absurd erscheint, wenn er doch bedeutet, dass wir in Liebe verschmelzen. So sinnvoll wie auch wertvoll klingt dann die Frage an, warum wir überhaupt hier sind, wenn es uns doch woanders immer gut gehen kann. Wo bitte kann es schöner sein, als in der Liebe?

„Wir bleiben hier, um auf dieser Welt ganz viele Erfahrungen zu machen. Um uns selbst kennenzulernen. Um überhaupt zu lernen, zu verstehen, zu sehen, zu hören. All das: schmecken, fühlen, sehen, hören, können die Seelen nicht mehr, wenn sie in die Liebe gegangen sind.“

Es waren weniger die Worte als all die kribbligen Gefühle, die mich auch bei dieser Antwort durchflossen. Denn mit der Aussicht auf das ultimative Geschenk der Liebe, die auf uns wartet, mutet das Leben viel spielerischer an, als ich, als viele, es im Alltag sehen. Die reine Möglichkeit, das Leben als Erfahrungsspielplatz zu betrachten hat in mir so viel Erleichterung, Inspiration und auch Freude ausgelöst, dass ich meinen Sohn nur staunend angesehen habe.

„Und warum ist das ein Friedhof?“, fragt er.

„Auf dem Friedhof können wir die Menschen besuchen, die schon in die Liebe gegangen sind. Dann können wir uns an die schöneren Momente erinnert, die wir mit den Menschen auf der Erde geteilt haben.“

Während die Graugänse in Formation über uns ihren Weg nach Süden machten, hielt mein Sohn andächtig an jedem Grab, am Hauptweg Richtung Drehtür an und bat mich, jeden Namen auf den Grabsteinen vorzulesen. Bis wir die Tür erreicht hatten, durfte ich keinen Namen auslassen.

Bisher hatte ich den Tod immer als etwas Trauriges begriffen. Zum ersten Mal verstand ich ihn als unser Abschlussgeschenk für unser Sein hier auf Erden. „In die Liebe gehen“, so nennen wir es jetzt, wenn wir über das Sterben sprechen. Und ja, eine Traurigkeit begleitete mich bei dem Gespräch auch. Nur war sie für mich in diesem Moment nicht diese wegschwemmende Traurigkeit, in der ich das Gefühl habe zu ertrinken. Vielmehr war sie eine dem Thema vollkommen angemessene und adäquate Emotion, vor der ich keine Angst mehr hatte. In diesem schönen Gespräch war die Traurigkeit eine, die auf ganz natürliche Weise das Loslassen erleichtert, damit ich mich auf diese Weise vertrauensvoll dem Fluss des Lebens anvertrauen kann.