Heilsame Beziehung zum inneren Kind - Wie du Kontakt aufnehmen kannst
Ich bin heute Morgen aufgewacht, habe mich leicht traurig und ängstlich gefühlt. Ich wache oft so auf. Erst sind die Gefühle unterschwellig da. Sie sind da, wie als wären sie in meinem Gepäck und ich trage sie mit in den Tag. Oft ist es so, dass mein Rucksack mit fortschreitendem Tag immer schwerer und schwerer wird. Dann ist die Traurigkeit oder die Angst nicht mehr nur dabei, sondern nimmt mich ein. Denn ich habe regelrecht Angst vor meinen Gefühlen, die mich schon allzu oft aus dem Alltag gerissen haben. Ich will sie nicht mehr spüren, möchte nur, dass es mir endlich mal gut geht.
Ich habe in all meinen Therapien verstanden, dass meine Erfahrungen aus der Kindheit noch immer Einfluss auf meinen heutigen Alltag haben. Das verstehe ich nicht nur kognitiv, sondern spüre es auch jeden Tag. Doch wie passt nun die Traurigkeit am Morgen zu einer Situation von früher?
Wie so oft versuche ich mit dem Verstand zu greifen und zu erklären, was ich in mir fühle. Denn wenn ich rational verstehe, dann weiß ich besser, was ich verändern kann, damit es mir besser geht. Dann kann ich mich anders verhalten, umdenken, die Perspektive wechseln. Dann bin ich weniger ausgeliefert und ohnmächtig, sondern kann aktiv handeln.
Doch wie so oft auf der Reise durch die eigene Gefühlswelt ist vieles, was ich wahrnehmen, was sich zeigt, was ich fühle, nicht mit Logik zu greifen.
Seit Beginn dieses Jahres habe ich einen Zugang zu mir gefunden, der nicht alles zu erklären versucht. Einen Zugang, der nachspürt, dann weiß, was gebraucht wird, damit ich mir selbst das geben und schenken kann, was fehlt.
Manchmal, spreche ich mit mir, führe einen Dialog und frage, was es braucht.
„Was brauchst du jetzt in diesem Moment, damit es dir gut geht?“
Was sich dann zeigt, wenn ich die Augen schließe, ist oftmals ein Anteil von mir, der wesentlich jünger ist als ich selbst. Manchmal sehe ich ihn, manchmal spüre ich ihn, ohne die Bilder dafür im Kopf zu haben.
Es ist eines meiner inneren Kinder, mit dem ich da in Kontakt trete. An diesem Morgen sind meine Augen noch geschlossen und ich sehe mich selbst, wie ich in meinem Bett liege. Ich bin etwa 15 und liege in meinem alten Kinderzimmer. Meine Mutter weckt mich für die Schule und ich möchte mir am liebsten die Bettdecke über den Kopf ziehen. In der Szene, die sich mir zeigt, sehe ich ein Mädchen, dem die Herausforderungen des Lebens gerade zu viel sind. Die Verantwortung, die nach der Trennung der Eltern auf ihr lasten, sind einfach zu viel. Sie braucht eine Pause, muss verarbeiten, was da in den letzten Wochen und Monaten, ja Jahren, geschehen ist, was gesagt wurde, was sich verändert hat. Doch dafür ist irgendwie keine Zeit, kein Raum und es gibt niemanden, der dieses Verarbeiten begleiten könnte. Das Mädchen weiß selbst nicht genau, was es braucht, aber es spürt die Schwere in sich. Da ist was zerbrochen.
Papa ist gegangen, er hat uns verlassen und das nach einem Streit mit mir. Ich bin erleichtert, denn davor war es viel zu hart, viel zu gefährlich für mich, als er noch da war. Aber mich in Sicherheit zu bringen, war damals gar nicht meine Aufgabe, sondern die meiner Mutter. Und jetzt soll es einfach weiter gehen? Es war doch die Jahre zuvor schon viel zu viel und zu anstrengen.
Doch da ist keiner, der sieht, wie es dem Mädchen wirklich geht. Und wenn doch, gibt es einfach keine Kapazitäten, um die kleine Steffi aufzufangen. Das Mädchen von damals weiß, dass Mama gerade auch anderes im Kopf hat, als da zu sein nur für sie. Alleinerziehend mit zwei Kindern, selbst überfordert mit den neuen Herausforderungen wie Existenzängsten, Unterhaltsstreit und eigenen Ängsten, hat sie getan, was ihr möglich war und noch viel mehr. Sie hat sich auch vergessen müssen, um da zu sein. Das weiß ich. Deshalb funktioniere ich damals mit, bin das gute Mädchen. Innerlich schwer, leer und wütend zugleich. Und dass niemand sie wirklich sieht, das macht traurig.
Diese Szene ist die Geschichte, die sich mein Inneres erzählt. Solche Erinnerungen sind oft wenig rational, sondern vielmehr emotional abgespeichert. Es ist meine Geschichte, wie ich sie erlebt habe. Und das zu sehen und zu verstehen, bedeutet, dass ich mich heute um diese Wunden kümmern kann, die ich damals selbst gar nicht als solche wahrgenommen habe.
Ich bin jetzt mit vollem Herzen an dem Punkt in meinem Leben, an dem ich mich diesen inneren Anteilen von mir liebevoll zuwenden kann. Ich versinke nicht mehr im alten Schmerz, sondern blicke geankert aus dem Hier und Jetzt, aus meinem „Erwachsenen Ich“ auf die Situation von damals. Ich wühle nicht mehr in den überwältigenden Gefühlen, gebe niemandem die Schuld daran, dass das, was war, war. Sondern ich wende mich zu, in Fürsorge. Ich nähre das, was damals Leere war. Ich halte mich da, wo damals der Halt gefehlt hat.
Ich bin mir selbst der Mensch, den ich als Kind so dringend gebraucht hätte.
Endlich kann ich das diese tiefe Verbindung spüren zu den Anteilen in mir, die sich nach Liebe sehnen und sie damals nicht bekommen haben. Ich bin mir selbst die Freundin, die für mich da ist. Ich glaube, das ist gemeint, wenn von Heilung die Rede ist. Es sind nicht plötzlich alle inneren Kämpfe gewonnen. Aber ich kann mich mir selbst zuwenden und da sein, mich an die Hand nehmen, damit es leichter wird.
Heute Morgen habe ich mir beide Hände auf den Herzbereich gelegt und mir die fürsorgliche Mamaliebe gesendet, nach der ich mich damals gesehnt habe. Ich habe mich gehalten, mich gewogen wie ein Baby. Und vor allem habe ich mich gesehen, mit dem, was es brauchte. Ich habe mich nicht gewehrt gegen die Traurigkeit, die da war. Stattdessen habe ich sie angesehen und sie sogar getröstet.
Die Wärme und Weite, dieses Kribbeln, das sich als Antwort auf solche Zuneigung in mir ausbreitet, ist mein Schlüssel zu tiefer Selbstannahme.
Mit dieser Erfahrung und all den voran gegangenen habe ich für mich verstanden, dass sich mein versehrtes Kind ganz unabhängig von bestimmten Situationen meldet. Besonders die Gefühle von Traurigkeit und Angst begleitet von einem inneren Druckgefühl und Schwindel sind die, mit denen sich eines meiner inneren Kinder meldet. Als würde es anklopfen, mal leiser, mal lauter. Nicht, weil etwas Bestimmtes geschehen ist, sondern weil es gerade Zeit ist nachzunähren, hinzusehen, da zu sein, einzukehren. Und das tue ich. Und feiere dabei diese neue Art der Fürsorge, die ich für mich entdeckt habe, weil es so schön ist, sich selbst Liebe schenken zu können.
Selbstverständlich gibt es Auslöser im Alltag, bei denen ich ganz klar sehe, verstehe und spüre, dass mich konkret die Situation an sich überfordert. Das sind neben so vielen anderen die Stunden, in denen ich mich bei all den Anforderungen im Außen selbst verliere. Die stressigen Momente im Alltag beispielsweise, in denen die Tasche gepackt, das Kind angezogen werden möchte. Dann beeilen, um den Bus zu bekommen, schnell der Freundin noch schreiben, was man trotz all des Packens vergessen hat, während mein Sohn meine Aufmerksamkeit verlangt und auch mein Mann mir noch was Wichtiges erzählen möchte. In diesen Situationen gehe ich noch immer verloren, zerstreue mich mit meiner Aufmerksamkeit im Außen und kann mich nur schwer wieder einsammeln. Hier braucht es erstmal wieder die Ruhe und vor allem Regulation für mein alarmiertes Nervensystem, um mich hinter dem Zuviel wieder wahrnehmen zu können. Erst dann, wenn es ruhiger wird und ich mir Zeit nehme, mich mir zuzuwenden, reflektiere ich nach Lust und Laune die Situation nochmal. Ich weiß nicht, ob solche Überforderungszustände jemals verschwinden, ich glaube nicht. Deshalb übe ich mich in der Annahme, dass auch das, ein Teil von mir und meinem inneren Erleben ist.
Dabei noch ein ja, zu der Frage, ob es mehrere innere Kinder gibt. Ja, weil es so viele unterschiedliche versehrte Anteile in dir gibt, die alle unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben. Sie sind unterschiedlich alt und kommen aus verschiedenen Lebenssituationen. In der Essenz sind es bei mir drei bis vier innere Kindanteile, die ich besuche und um die ich mich kümmere, weil es die sind, die am meisten Schmerz tragen.
Wie du mit deinem inneren Kind Kontakt aufnehmen kannst?
Mit dem inneren Kind in Kontakt zu treten, beutetet übrigens nicht, dass die eigene Kindheit zwangsläufig schmerzhaft gewesen sein muss. Es wird immer Erfahrungen geben, in denen es mehr Liebe, Aufmerksamkeit und Zuwendung gebraucht hätte. Um diese kannst du dich im Nachhinein kümmern.
Bevor ich weitergehe, ist es mir an dieser Stelle ganz wichtig zu sagen, dass du bei der Arbeit mit dem inneren Kind aus dem Hier und Jetzt heraus, aus der Perspektive deines „inneren Erwachsenen“ Zuwendung gibst. Wühlst du nur in dem alten Schmerz von damals, ohne einen Anker oder Halt zu haben, lädst du den Schmerz wieder und wieder ein, ohne ihn mit dem versorgen zu können, was gebraucht wird. Auch darfst du wissen, dass eine eventuelle Gefahr, der du früher ausgesetzt warst, heute keine mehr ist. Du bist sicher. Und aus dieser Sicherheit heraus, aus deiner Selbstbestimmung im Erwachsen sein, wendest du dich zu. Also hole dir hier gerne Hilfe und Unterstützung, frag in deiner Therapie gezielt, ob ihr die „Innere-Kind-Arbeit“ aufnehmen könnt, lass dich begleiten, wenn du in den ersten Schritten Kontakt aufnimmst.
Noch ein Einschub, der klarstellen soll, um was es in der Arbeit mit deinen versehrten Anteilen NICHT geht. Es geht nicht darum, dass deine Eltern oder andere Schuld an irgendetwas haben. Denn mit Schuldzuweisungen weißt du auch die Verantwortung für dich, anderen Menschen zu. Damit kommst du nicht weiter. Vielmehr ist der Kontakt zu deinem inneren Kind eine Verbindung zu dir selbst. Es geht um dich, um dein Verständnis für dich. Es geht nicht mehr darum, von wem deine inneren Anteile früher verletzt wurden. Es geht vielmehr darum, dir jetzt die Sicherheit und Aufmerksamkeit zu geben, die dir heute Friede schenkt. Die Innere-Kind-Arbeit ist ein ressourcenorientiertes Nachnähren, ein Auftanken dessen, was es damals gebraucht hätte.
Wie also nimmst du jetzt Kontakt auf?
Es gibt hier keinen 5-Schritte-Plan und auch kein Geheimrezept. Es ist an dir, deinen Zugang zu finden, mit dir und deinen inneren Anteilen zu sein. Das braucht Zeit, Übung, Phasen der störungsfreien Zuwendung und wenn du magst auch gerne Unterstützung und Begleitung. Fehlerfreundlichkeit darf dein lieber Begleiter sein. Du brauchst nichts zu erwarten. Sondern schaue neugierig auf das, was sich zeigt.
Was die Besuche deiner Innenwelt angeht, so sollten sie keinesfalls ein weiterer Punkt auf deiner To-do-Liste sein, sondern vielmehr ein Genießen. Es ist ein Geschenk, welches du dir selbst machst, wenn du intensiv Zeit mit dir verbringst, um dich mehr und mehr kennenzulernen. Hier ein paar Ideen für deinen Zugang:
Gehe zurück in deine Kindheit
Was hast du gerne gemacht? Wie hast du deine Zeit verbracht? Was hat dir Freude bereitet?
Was war dein Lieblingsessen? Welche Musik hast du gerne gehört?
Manchmal sind geben vertraute Klänge oder Gerüche schon einen ersten Zugang.
Meditation und Imagination
Auch geführte Meditation und Imaginationsreisen können dir helfen, dich mit deinem inneren Kind in Kontakt zu bringen. Dabei sollte die Meditation einen Raum bieten, deinen versehrten Anteilen in einer sicheren und friedlichen Atmosphäre begegnen zu können.
Für mich ist der visuelle Zugang einer, der funktioniert. Ich sehe nicht jeden Gesichtsausdruck und jede Situation, die ich besuche, klar vor mir. Oft erahne ich schemenhaft, was sich mir zeigt. Doch in Verbindung mit dem, was ich dazu spüre, ist der Kontakt zu meinen Anteilen hergestellt.
Gespräche oder Briefe
Wenn mein inneres Kind anklopft, wähle ich zur Imagination oft den inneren Dialog. Ich frage, was es braucht, höre zu und bin da. Diese Form des Gesprächs kannst du auch ganz losgelöst von Meditation und Imagination versuchen.
Eine andere Form des Gesprächs ist, deinen inneren Kindern einen oder mehrere Briefe zu schreiben.
Probier dich gerne aus. Ich kann dir von mir aus sagen, dass sich diese Art der inneren Verbundenheit so lohnt. Und wenn du zuhörst, was deine inneren Kinder dir erzählen, wirst du bald von allein wissen, was die nächsten Schritte in eurer Beziehung sind.
Die Beziehung zu deinem inneren Kind zu stärken bedeutet am Ende, dass du selbst die Beziehung zu dir stärkst, mit allem, was dich ausmacht. Kommst du dann wieder in eine Situation, in der sich ein innerer Kindanteil bemerkbar macht, wirst du mit der Zeit sicher feinfühliger und lernst, wie du dir innerlich guttun kannst.