Hallo Wut, ich vertraue dir.

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Vor etwa 19 Jahren muss es passiert sein. Nach einem für mich traumatischen Schlüsselmoment, in dem ich mich zum wiederholten Male der Wut meines Vaters ohnmächtig ausgeliefert gefühlt habe, ist meine eigene Wut aus dem gesunden Farbspektrum der Emotionen verschwunden.

Ich habe mich nicht aktiv dazu entschlossen, meine Aggression von der bunten Palette meiner Gefühlswelt zu streichen. Vielmehr war es eine Art inneres Schutzprogramm, welches den Impuls der Emotion Wut als nicht länger vertrauenswürdig eingestuft hat. Auf der Grundlage meiner realen Erfahrungen hat die so wichtige Emotion Wut das Label gefährlich erhalten: Schublade auf, Wut rein, Sticker drauf “Achtung, Explosionsgefahr, detoniert bei Öffnung”, Schublade zu.

Wer im Laufe der folgenden Jahre so weit vorgedrungen ist, die explosive Schublade auch nur zu berühren, hat die schwer kontrollierbare Detonation in mir sicher deutlich zu spüren bekommen. Was sich da entlud, war keine Wut, die ich als einen Teil von mir spürte, sondern eher ein Schrei nach Aufmerksamkeit einer so wichtigen und dennoch von mir abgespaltenen Emotion. Wer mich sehr gut kennt und jahrelang begleitet hat, würde folglich nicht unterschreiben, dass Wut eine Emotion war, die bei mir nicht vorkam. Denn wüten, das konnte ich. Und doch, war dieses energiegeladene Gefühl nach meinem Empfinden von mir isoliert. Ich habe über viele Jahre reagiert auf einen Impuls, den ich gerne verstummen lassen wollte.

“Sind wir wütend, kommt uns etwas zu nah”, schreibt Martin Witthöft in seinem Buch Verkörperter Wandel - Die Praxis der Integrativen Yogapsychologie (2021). “Auch wenn die Auslöser unterschiedlich sind, werden wir bei genauer Betrachtung feststellen, dass Wut in der Regel etwas mit Grenzverletzung zu tun hat. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um körperliche, emotionale oder geistige Grenzen handelt.”

In den Streits mit meinem Vater wurden meine Grenzen bis zur Demütigung überschritten. Er hörte selbst dann nicht auf zu wüten, wenn ich versuchte die Szene oder gar die Wohnung zu verlassen um aus der Situation zu fliehen. In dem für mich einschneidensten Moment verwehrte mir mein Vater sogar die Flucht aus der Haustür, indem er sich übermächtig davor aufbaute und sagte: “Du kommst hier nicht raus!”. Ich war ausgeliefert und allein. Alle meine Grenzen waren in diesem Augenblick übertreten und regelrecht ausgenutzt. Nach dieser Erfahrung, war meine eigene Wut kein Teil mehr von mir.

Durch die Abspaltung der Wut, habe ich sprichwörtlich verlernt, mich selbst zu vertreten. Wichtige Warnsignale meines Körpers, die eine Grenzüberschreitung anzeigten, blieben ungehört, ungesehen, weil ich aufgehört habe, dem Impuls dieses wichtigen Gefühls zu vertrauen. Wut war gleich Gefahr.

Heute befinde ich mich im Übergang der Wut und all ihren Geschwistern wie Zorn, Aggression, Aufregung und Ärger wieder einen Platz einzuräumen. Wenn sie kommt, diese hilflose und überforderte Emotion, dann spüre ich, wie unsere gemeinsame Beziehung noch in den Kinderschuhen steckt. Wir beide dürfen uns erst kennenlernen. Von der oftmals heftigen Intensität der Wut-Wellen, fühle ich mich überwältigt. Denn wenn diese hohe emotionale Ladung in mir explodiert, habe ich nicht selten eine Überschreitung meiner persönlichen Grenzen im Voraus zugelassen. Gleichzeitig war und ist der Ausdruck meiner Wut verknüpft mit tiefen Gefühlen von Schuld und Scham. Ich schäme und gräme mich. Ich fühle mich schuldig dafür, mich zu vertreten und meine Grenzen anzuerkennen und zu setzen.

Doch wieso sind in meiner Gefühlswelt Schuld und Scham in einer zerstörerischen Stärke regelrecht mit der in mir aufflammenden Wut verheiratet? Die Antwort auf diese Frage ist mir in einer meiner letzten Therapiestunden klar geworden. Und diese Klarheit bringt eine Erleichterung und eine Freude darüber, weil ich endlich verstehe, woher all dieser Gefühlswahnsinn kommt.

Durch die cholerischen Übergriffe von Seiten meines Vaters, habe ich irgendwann geglaubt, selbst an der Grenzverletzung schuld zu sein. In den Versuchen, mich zu wehren, wurde ich beschämt und gedemütigt. Die scheinbar unfehlbare Überlegenheit ließ mich glauben, dass ich diese Behandlung am Ende wohl verdient habe.

Im Yogasutra bezeichnet Patanjali eine solche Täter-Opfer-Verwechslung als Avidya:

Unbeständiges für Beständiges, Unreines für Reines, Unglückbringendes für Glückbringendes und Unwesentliches für Wesentliches zu halten ist avidya.(Sriram, 2006; Yogasutra 2.2.5)

Als junges Mädchen wurde ich damals nicht nur abgelehnt, wenn ich für mich einstand, sondern obendrein gewaltvoll in eine Ecke gedrängt. Die Antwort, die ich damals fand, war, dass ich so, wie ich bin nicht liebenswert bin. Also wurde ich anders und richtete in meinem Schuldgefühl die Wut in einer Art Auto-Aggression gegen mich selbst. Ich habe versucht gut zu sein, liebenswert und unkompliziert. Meine eigenen Bedürfnisse habe ich vergessen und verraten, bis ich kaum mehr mit meinem Selbst in Kontakt war. Und gleichzeitig war es so nie genug. Ich war nie genug. Denn wer versucht jemand zu sein, der sie nicht ist, entspricht am Ende viel weniger dem gespielten Idealbild. Spätestens, wenn der eigene Körper sich meldet und die Grenzen des mit gesellschaftlicher Anerkennung gefeierten Funktionierens meldet, lauert dahinter die Krise. Dann ist weder das verneinte Selbst noch das angepasste Selbst eine Möglichkeit zu sein und alles bricht zusammen. Und genau das ist passiert.

Die große Krise habe ich überwunden. Doch noch heute ist es für mich schwierig bei der kleinsten und leisesten Ego-Verdichtung, die mich selbst vertritt, zu mir selbst zu stehen:

  • Auf der Couch liegen und fernsehen, während mein Mann zu Hause ist: Schuldgefühle.
  • Mir einfach ein Brot zum Mittag machen, weil ich keine Lust habe zu kochen, obwohl massig Zeit ist: Schuldgefühle.
  • Auf die Frage “Was hast du heute gemacht?” mit “Nichts.” zu antworten: Schuldgefühle.

Dabei habe ich den wohl verständnisvollsten Mann an meiner Seite, der mich sogar darin unterstützt, mir eben genau so viel Zeit für mich zu nehmen, wie ich es brauche.

Konflikte sind für mich eine riesige Herausforderung. Erstens, weil ich großen Mut dafür aufbringen muss, mich und meine Meinung zum Ausdruck zu bringen. Zweitens besteht für mich bei jedem Konflikt die Option, abgelehnt oder schlimmer noch missachtet oder gedemütigt zu werden. Somit würde die alte Spirale von “Ich bin nicht richtig, wie ich bin” wieder losgetreten.

In Gegenwart meines Vaters fühle ich mich bei all dem Wissen um unsere dysfunktionale Beziehung irrationaler Weise noch immer als Täterin. Unsere Beziehung ist gestört und die Verantwortung dafür trägt mein Vater. Doch auf meinen Schultern liegt noch immer die Last dieser Verantwortung, die er nie übernommen hat. Lange habe ich den Kontakt zu meinem Vater gemieden. Seit wir wieder eine Annäherung versuchen, hat sich zwischen uns nichts geklärt. Er möchte das nicht. Und so steht immer etwas unaushaltbar Unausgesprochenes zwischen uns, wenn wir uns sehen. Und ich laufe jedes Mal, an dem wir uns sehen Gefahr, in die alten Muster von Schuld und Anpassung zurück zu fallen.

Ich möchte mich nicht mehr schämen, dass ich bin, wie ich bin. Abgesehen davon, dass ich noch auf dem Weg bin wirklich herauszufinden wer ich denn bin ohne angepasstes und konformes Verhalten.

Mein Weg und mein Leben, mein Glück liegen in meiner Hand. Deshalb habe ich beschlossen, die Verantwortung für mich zu übernehmen und die Treffen mit meinem Vater auf unbestimmte Zeit zu pausieren.

Ich möchte mit meiner Wut und den Möglichkeiten, die sich mit ihr an meiner Seite eröffnen gemeinsame Wege gehen. So darf ich dank all dieser Erkenntnisse lernen, meiner eigenen gesunden Aggression wieder einen Platz im Farbspektrum meiner Emotionen einzuräumen. Ich darf und ich möchte mir erlauben, meine Bedürfnisse zu äußern und Grenzen zu setzen. Ich möchte mit gutem Gewissen Nein sagen dürfen ohne in erstickenden Schulgefühlen zu versinken. Und das Beste ist: Ich freue mich auf diesen Weg.

Liebe Wut,

ungefähr die Hälfte meines Lebens bist du kein angenommener und geschätzter Anteil von mir gewesen. Das möchte ich ändern, hier und heute. Und weil es sich so gut anfühlen kann, Stopp und Nein zu sagen und somit die eigenen Grenzen zu achten und zu ehren, möchte ich dir einmal danke sagen. Danke, dass du wieder für mich da bist und auf mich acht gibst. Und ich weiß, dass mit jedem Tag, den wir wieder Hand in Hand gehen, deine emotionale Ladung leichter werden wird, weil ich mit dir lerne, meine Grenzen zu setzen, bevor sie überschritten sind.

Danke an dieser Stelle an Martin Witthöft mit seinem Ansatz der integrativen Yogapsychologie für die einfühlsame Begleitung in der Aufklärung der für mich so lähmenden Dynamik von Schuld- und Schamgefühlen.